Störungen

Ausstellung im spazio.gds, Basel, 7.-16. Oktober 2004

Das Theater im Kopf

In meiner Theaterarbeit hatte ich das Ziel, Geschichten nicht auf der Bühne, sondern vor allem im Kopf der Zuschauer und Zuschauerinnen wachsen zu lassen. So wurden mit den Jahren meine Darstellungsmittel immer karger bis hin zu den Stücken, während derer ich nur auf der Bühne stand und 20-30 Personen mit ihren Stimmen aus meinem Mund sprechen liess - ohne grosse Gestik, ohne grosse visuelle Abwechslung: in artigen Dialogen oder sich wild unterbrechenden Gruppengesprächen. Hin und wieder sah ich im Zuschauerraum Leute mit aufmerksamen Gesichtszügen, aber geschlossenen Augen - sie sahen das kleine Kind, das mittelalterliche Schlachtfeld, das fest in sich verkrallt wiehernde alte Liebespaar, den verrückt gewordenen Archivar, die perfekte Hausfrau und die letzten Magnolien im Herbst. In jedem Kopf, so war es mein Wunsch und so kamen auch die Rückmeldungen, lief ein anderer Film ab, hatten die Geschichten oft je eigene Bedeutungen, und die Landschaft, die Gesichter, das Schloss und sein Park, die Küche und die Wüste steuerte jeder aus seiner eigenen Erfahrung und Phantasiewelt selber bei. Die Szenerie also war das Werk der Zuschauer - ich lieferte nur die Handlung und die Stimmen. So war es mir möglich, bepackt mit einem Tramperrucksack, in dem ich nur Scheinwerfer, Tonanlage und Pyjama verstaut hatte, mit dem Zug von Theater zu Theater zu ziehen, in der Gewissheit, dass ich die farbigen naturgetreuen und bewegten Bühnenbilder und die Körper und Gesichter meiner Figuren in den Köpfen meines Publikums antreffen würde.

Stadtbeschreibung

Dieses Projekt unterscheidet sich nicht sehr von meiner Theaterarbeit. Meine Absicht war es wieder, kleine Filme in den Köpfen des Publikums auszulösen - mit noch weniger Mitteln als auf der Bühne. Die kleine Veränderung in den Wörtern sollte nicht nur die Lesegewohnheit stören, sondern sollte zu Phantasien, Bildern anregen, die einen aus dem Alltagstrott für einen Moment herausziehen und begleiten: Der Wollmond ist wunderschön anzuschauen - für manche steht ein Schaf im Mond, für andere scheint er hinter einem Cashmereschleier durchs Fenster. Der Rabenmäher ist dann schon weniger poetisch und könnte einen aufschrecken lassen, wenn des Nachbars Rasenmäher zu hören ist. Abschieb ist für mich die schweizerische Art, von Asyl Suchenden Abschied zu nehmen, und die Volksabstummung kommt einem vielleicht manchmal bei der Zeitungslektüre in den Sinn. 

Dass nicht bei jedem die gleichen Assoziationen hervorgerufen werden, hatte ich gehofft und erwartet. Nicht aber, dass sich sogar Leute über dieses Projekt haben ärgern müssen:

Ca. 50 dieser veränderten Wörter, die ich mit Hilfe auch von FreundInnen gesammelt hatte, schrieb ich auf kleine Karten und mischte diese wie ein Kartenspiel. Dann nummerierte ich die Kärtchen. Vor der BaZ auf dem Aeschenplatz begann ich die Stadtbeschreibung: Kärtchen für Kärtchen schön der Reihe nach. Aeschenplatz - Freie Strasse - Marktplatz - Barfüsserplatz, Leonhardsschulhaus, zurück zum Bahnhof bis zum Schützenhaus. Da mir dort die Karten ausgegangen waren, schrieb ich - die Regel verletzend - "Schützenmaus". Auch beim Start schrieb ich vor die Türe der BaZ: "Zu nachtschlafener Zeit beschrieb ich die Stadt". 

Die Strassen, die ich beschrieb, waren menschenleer  - es war in der Mitte der Nacht. 

Am anderen Tag beging ich noch einmal die beschriebene Strecke. Jetzt waren die Trottoirs natürlich bevölkert. In dieser halben Stunde, während der ich unterwegs war, sah ich nur wenige, die das Geschriebene beachteten. Sehr wenige. Ein bisschen enttäuschte mich diese Achtlosigkeit, waren doch zumindest in der Freien Strasse alle 5 bis 10 Meter Wörter auf dem Fussboden zu lesen. Irgendwann fällt einem das doch auf? Wem es negativ aufgefallen ist - das hatte mich dann doch sehr erstaunt - war einer Bank. Vor der stand "Erbschuft". Spuren von Wasser vermischt mit Seife waren an Stelle dieses Wortes zu sehen. Eine heftige Reaktion. Eine nicht erwartete. Da hatte jemand tatsächlich ein Wort, das durch Zufall dort platziert wurde, auf sich bezogen.

Ich war also enttäuscht über die allgemeine Reaktionslosigkeit, freute mich über die wenigen Leute, die ich staunen sah, tröstete mich aber mit der Hoffnung, dass nicht alle Reaktionen sichtbar sind und dass sicherlich die ersten, die frühmorgens die Freie Strasse beschritten hatten, gestaunt, gelächelt oder den Kopf geschüttelt haben. 

Nach Versand der Ausstellungseinladung erhielt ich bereits Rückmeldungen in Form von neuen Wörtern  - das Projekt also geht weiter. So hatte ich es mir gewünscht!

Offen


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Oder siehe das Video auf Vimeo: https://vimeo.com/28349326

Ausgangspunkt1

Jede und jeder kennt das Phänomen, dass man z. B. auf einem ausgedehnten Spaziergang an einem Satz hängen bleibt, ihn sinnentleert immer wieder wiederholt - manchmal sind es ganz nichtssagende Sätze oder Reime, die sich mit der Repetition verändern. Wenn man dann an der Bushaltestelle aus dieser „Satztrance“ aufwacht, steht ein seltsamer Satz vor einem - mehr oder weniger entfernt vom Ursprungssatz. Und man weiss nichts mehr von der Umgebung, in der man spaziert ist, fragt sich, wie man zur Haltestelle kam und ob man nichts Gescheiteres hätte denken können.

Ausgangspunkt 2

Die Menschen, denen wir in der Strasse begegnen, denken ja alle irgendetwas, stehen in einem inneren Dialog mit jemandem, erinnern sich an ein Gedicht, an weit Vergangenes etc. Und manchmal passt das, was einer denkt auf der Strasse zu dem ihn Umgebenden, und manchmal reibt es sich enorm an der Umgebung. Das Zusammentreffen also von Umgebung und dem, was jeder in seinen Gedanken mit sich umher  trägt, kann diese vertiefen, bestätigen, verändern, kann ihnen Komik verleihen und Tragik oder kann sie in eine komplett andere Richtung lenken.

Ausgangspunkt 3

Ich wollte wissen, wie das denn so ist, an etwas zu denken und gleichzeitig komplett offen für die Umgebung zu sein. Das ist fast nicht möglich - eigentlich gar nicht. Denn wenn ich vorsätzlich offen für die Umgebung bin, dann verlassen mich meine Gedanken und lasse sich von der Umgebung mitreissen bzw. folgen den visuellen und akustischen Reizen. Also nahm ich einen Text aus der Literatur - den Monolog von Hamlet - und nahm mir vor, so weit wie möglich nur diesen Text zu denken. 

Warum Hamlet? Erstens, kennen den viele - oder geben es wenigsten vor. Zweitens, hat er eine eindeutige Botschaft - so auf Papier gelesen; und drittens, ist er absolut zeitlos. 

Die Ausführung

Der Monolog wurde während meiner Arbeit am Film ein alltäglicher Text, eine ganz normale Aussage, Feststellung. Ihn vor mich hin sprechend - nicht laut, aber auch nicht flüsternd -, ging ich in ziemlich eiligem Schritt durch die Stadt, übers Land und durch den Park. Die Videokamera hielt ich an meine Wange, so dass die Linse ungefähr auf meine Augenhöhe zu stehen kam. Ich schaute nicht durch die Kamera. Ich blickte alles, was mir begegnete - und das waren vor allem Menschen - direkt an, behielt es im Auge, während ich gleichzeitig versuchte, den Text zu behalten. Manchmal verlor ich ihn - und es entstand eine Pause. Manchmal verlor ich ein paar Zeilen oder wiederholte, veränderte Worte usw. - manchmal wurde ich traurig, durch einen Anblick, der sich mit dem Inhalt des Textes verband, und manchmal musste ich fast lachen, weil das, was mir begegnete, den Text zunichte machte oder zu sehr betonte. Aber nicht nur die Impulse von aussen machten mir zu schaffen, sondern auch das schnelle Gehen, das Atem holen und manchmal auch das Gefühl der totalen Isolation: mit dem Inhalt dieses Textes in mir zwischen hunderten von Menschen, die fröhlich dem Ausverkauf nachjagen.

Für die Zuschauer und Zuschauerinnen wird es wahrscheinlich eine ähnliche Erfahrung werden.  Dem gesprochenen Text konzentriert zu folgen, wird unmöglich sein, denn die visuellen und akustischen Impulse sind enorm. Einige werden vielleicht über gewisse visuelle und akustische Verschmelzungen lachen oder betroffen sein - je nach dem, wo ihre Assoziationen sie hinführen. 

Michèle M. Salmony Di Stefano, September 2004


Pressetext

Michèle M. Salmony Di Stefano hält den Ausdruck "Künstlerin" für zu allgemein und sagt von sich selbst: „Ich schreibe und erzähle Geschichten". So ist auch das Wort, geschrieben oder gesprochen, das von ihr benutzte Material für die  beiden Projekte, die vom 7. bis zum 16. Oktober  im spazio.gds (Mattenstrasse 45, Basel) unter dem Titel "Störungen"  zu sehen sind.

Stadtbeschreibung: eine Dokumentation

In der Nacht vom 15. zum 16. August 2002 schrieb Salmony Di Stefano auf den Trottoirs in Basels Innerstadt mit Wandtafelkreide Wörter, die einen "Fehler" enthielten.

Wollmond, Nachtsnutz, Nichtigall...

Der "Text" war  auf das Minimum reduziert: auf ein einziges Wort. Und auf das Minimum reduziert war auch der Eingriff  in den Text: Der Aspekt des Poetischen und der Verfremdung beruht einzig auf dem Austauschen eines Buchstabens mit einem anderen unseres Alphabetes. Auf eine absolute Reduktion der Mittel weist auch die Verwendung von Kreide hin. Ihre Einfachheit und Vorläufigkeit stehen im Gegensatz zu einer überladenen Ästhetik. Von diesen Aufschriften blieb effektiv keiner Spur übrig, ausser in den ausgestellten Fotografien oder in der Erinnerung der Personen, die sie gesehen haben oder ihnen gar nachgegangen waren.

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Das Kunstwerk realisiert sich im Kopf der Passanten

Die ausgestellten Fotografien zeigen Salmony Di Stefano beim Beschreiben der Trottoirs oder halten das eilige Gehen der Passanten am Tag danach fest. Sie sind nur eine Dokumentation. Das Werk selbst ist nicht vorhanden. Denn dieses realisierte sich - wenn es sich überhaupt realisierte - im dem Moment, in welchem Passanten sich über die Bedeutung der seltsamen Wörter gewundert haben: Als sie den Mechanismus begriffen,  haben sie vielleicht selber gemäss den Beispielen neue Wörter kreiert oder liessen ihre Phantasie durch diese Wörter zu neuen Bildern anregen. Der ästhetische Prozess hört also nicht in jenem Moment auf, in dem Salmony  Di Stefano sich das Projekt ausdenkt, die Wörter erfindet oder schreibt.  Die Öffnung zur Teilnahme durch Interpretation und Nachahmung des vorübergehenden Publikums ist das fundamentale Moment dieses Prozesses.

Störung zur Phantasie

In diesem Projekt bestehen die Störungen, auf die der Titel der Ausstellung anspielt, aus den in den Wörtern vorgenommenen Änderungen, die das Gewohnte stören; sie "stören" - mit Diskretion - die Alltagshast, indem sie die Phantasie anregen.

Offen: ein Videoprojekt

Offen heisst in diesem Projekt, offen für Impulse, Zufall, Spontaneität und Aufrichtigkeit der Gefühle, die sich in Fehlern manifestieren: In diesem Projekt drückt sich Salmony Di Stefano nicht durch das Verfassen einen Textes aus, sondern wählte einen von einem anderen Autor geschriebenen Text. Diesen spricht sie, während sie sich schnell an verschiedenen Punkten der Stadt fortbewegt und gleichzeitig das Geschehen, das sich vor ihren Augen abspielt, filmt.

Störung als Impuls

Den Text deklamiert sie nicht laut, will kein Bravourstück der Rezitation vollbringen, sondern will in der Anstrengung des Gehens, Sehens und Hörens den Text nicht verlieren. 

Die Begegnung mit dem Unerwarteten verändert den Text:  Das unmittelbare Geschehen erzeugt Gefühle, lenkt vom Text ab, gibt neue Assoziationen. Salmony Di Stefano  passieren so Textfehler, -lücken oder -verzögerungen.

Offenes Kunstwerk

"Offen" lässt einen unweigerlich an opera aperta (Umberto Eco – Das Offene Kunstwerk) denken, an Teilnahme und Interpretation des Publikums, an das Werk, das sich nicht  abgeschlossen präsentiert, sondern von den Betrachtenden mit mehr oder weniger verschiedenen Bedeutungen jedes Mal von neuem erzeugt wird. Die Zuschauer des Filmes interpretieren die Begegnung zwischen Text, Bild und Geräusch, indem sie dem Faden ihrer eigenen Assoziation folgen. Die verschiedenen Elemente des Films vermischen sich zu einer für jeden Betrachtenden wahrscheinlich anderen Einheit mit verschiedenen Bedeutungen:  tragische, komische, angenehme. 

Die Wahl des Textes (der Monolog von Hamlet) hat keinerlei besondere Bedeutung. Er wurde nur gewählt, weil ihn jeder von uns kennt oder zu kennen glaubt, und er deshalb geeignet ist, die Veränderungen, die Salmony Di Stefano, das Setting und das Publikum vornehmen,  zu messen.

Giovanni Di Stefano, spazio.gds, September 2004