Das Vergessen des Bruders

Es war an einem Montag vor 75 Jahren. Ich weiss das noch ganz genau. Da hatten sie ihn geholt.

In der ersten Zeit besuchten wir ihn jeden ersten Samstag im Monat. Brachten ihm Schokolade mit und die gewaschene Wäsche. Am Anfang hatte er sich gut an uns erinnert. Wusste noch alle unsere Namen. Sass in seinem Stühlchen. Wie ein kleiner Greis hatte er jeden angeschaut. Gründlich. Bedächtig genickt. Dann den Namen gesagt und darauf gewartet, dass man ihm die Richtigkeit bestätige. Tat man dies, öffnete sich sein kleiner Greisenmund zu einem glücklichen Lächeln.

Aber auch das verlor sich zusammen mit seinem Gedächtnis. Als er sich an nichts mehr erinnerte, auch nicht an unsere Namen und nicht an unsere Gesichter, kam ihm sein Lächeln abhanden.

Das letzte Mal haben sie mich zu einer Weihnacht zu ihm gebracht. Es muss etwa vor zehn Jahren gewesen sein. Wir erkannten uns beide nicht. Ich, eine Greisin im Rollstuhl. Er, ein kleiner verwitterte Greis mit starren Kinderaugen – verwüstet von all den Tabletten und der Erinnerungslosigkeit.

Wir sassen uns gegenüber. Starrten uns an. Erkannten uns nicht.

Ich sprach seinen Namen aus. Felix. – Was für ein Hohn: Felix .- Er reagierte nicht. Nicht auf meine Stimme. Nicht auf die Bewegung meines Mundes. Felix. Nach einer stummen Stunde verliess ich ihn. Legte meine Hand auf die seine. Die Berührung berührte ihn nicht.

Ich ging weg. Und ging nie wieder hin.

Es machte keinen Sinn mehr. Nein. Es hatte mich nicht traurig gemacht. Ich war ja so aufgewachsen – war daran gewöhnt: der kleine Felix hinter Mauern. Ich kannte ihn eigentlich nicht anders. Ich ging nicht zu ihm hin, weil es keinen Sinn machte. Warum sollte ich die komplizierte Reise zu Felix unternehmen, wenn ich ihn nicht berühren konnte!

Ja. Und so vergass ich ihn allmählich. Bis die Nachricht von seinem Tod eintraf, die Einladung zur Beerdigung und die Aufforderung, seine Habe entgegen zu nehmen. „Habe“, was sollte denn das genau sein? Seine Kleider? Er hatte ja nichts Eigenes. Nicht mal eigene Kleider hatte er! Anfangs brachten wir ihm noch welche mit. Die Kinderkleider von Thomas – dem Nachbarsjungen. Als die Eltern tot waren und die Arbeitslosigkeit gross, da hatte mir die Anstaltsleitung angeboten, dass er die Kleider der verstorbenen Patienten tragen könne. Zuerst war mir das peinlich. Und dann bald nicht mehr. Hat ja keiner gesehen. Und er hat es nicht gemerkt.

Ich bin also hingegangen, zur Beerdigung. Ein Kindersärgchen reichte für ihn aus. – Sie hatten das ganz würdig gestaltet, der Oberpfleger, der Anstaltsseelsorger und die Sozialarbeiterin. – Am Grab ein leises Gebet und das Tschilpen irgendeines Vogels in der Allee, Beerdigungshändedruck, der meinen rheumatischen Fingern nicht gerade wohl tat und dann die Bitte, ins Büro des Anstaltsdirektors zu gehen.

Beileidsworte und eine grosse Schachtel voll Papier – Schreibpapier, Klosettpapier, auseinandergerissene Tüten, weisse Ränder von Zeitungspapier, umgestülpte Briefumschläge, aufgerissene Medikamentenschachteln – voll Schrift, kleine, runde klare Bleistiftschrift. Ein unbekanntes Alphabet. Felix, mein kleiner Bruder Felix, das ewige Kind, hatte 70 Jahre lang geschrieben. Tausende von Zettelchen. „Was ist das für eine Schrift“, fragte ich. – „Keine Ahnung.“ – „Wer hat sie ihm beigebracht?“ – „Er wird sie sich selber erfunden haben – ich bin erst seit einem Jahr in der Klinik und habe über diese Papiere keinerlei Kenntnisse. Es scheint, als habe er das schon immer gemacht.“

Ich sitze da mit meinen 82 Jahren und werde den Rest meines Lebens damit verbringen, die Zeichen meines toten Bruders zu entziffern.

Fange an, ihn zu vermissen. Jetzt, in der Einsamkeit seines Alphabetes.

© by Michèle M. Salmony Di Stefano, Basel 1998, edition emmegi